Gendersprache


 

Ein Beispiel aus Indien: die Dalitas oder ‹Unberührbaren›

Sprachtüfteleien ändern die soziale Wirklichkeit nicht.

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In der Diskussion um das Gendern spielen gendernde Sprachaktivisten ein eigenes, eigenartiges Spielchen: sie wollen, dass alle mitspielen, aber nur sie selbst wollen die Regeln bestimmen – und nach Bedarf auch ändern, wenn sie sich unsicher fühlen.

So möchte z.B. Prof. Nübling von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz gerne, dass nur «Fachleute für germanistische Linguistik» zum Wort kommen, denn «es geht hier ja ums Deutsche». Aber es gibt auch Fachleute für germanistische Linguistik, die mit ihren Gedanken nicht einverstanden sind, wie z.B. Prof. Stathi vom Germanistischen Institut der WWU Münster, Dr. Trutkowski, Prof. Zifonun vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim, oder auch Prof. Hackstein der LMU vom Lehrstuhl für Historische und Indogermanische Sprachwissenschaft, dem man nicht ohne Weiteres vorwerfen kann, unkundig zu sein, und der das Deutsche in einem breiteren, vergleichenden Rahmen sehen kann.

Tja, was tut man dann? Dann ändert man die selbst verkündeten Spielregeln! So engt Prof. Nübling den Spielraum noch weiter ein und fordert, dass die sogenannte «Genderlinguistik» das Sagen hat.

Zu solchen Menschen kann man nur sagen: Spielen Sie Ihr eigenes Spiel mit Ihren eigenen Spielregeln in Ihrem Elfenbeinturm bitte allein (oder mit Ihren Freund*innen). Ich und viele anderen wissen, dass die echte Welt viel, viel größer ist und uns viel zu sagen hat.

Soziale Denksteuerung durch Sprachsteuerung?

Wenn Sprachänderung / Sprachsteuerung auch eine Änderung des Denkens der Menschen mit sich bringt (was die Genderer – so behaupten sie jedenfalls – anstreben), warum sollte diese Wirkung nur auf das Deutsche begrenzt sein? Eine kritische Betrachtung sollte auch untersuchen,

  1. ob eine sprachliche Änderung überhaupt wirksam sein und zu einer Änderung im sozialen Denken führen kann
  2. ob eine Änderung in der Gesellschaft auch unabhängig von wahrnehmbaren Sprachänderungen stattfinden kann

Eine Begrenzung auf den deutschen Sprachraum ist in dieser Frage ziemlich willkürlich (dient aber, so hofft man, der Flucht vor kritischen Fragen). Da müssen wir echt nicht mitspielen.

Was lehrt uns die restliche Welt? Das indische Kastensystem als Beispiel der Identitätspolitik

‹Politisch korrekte› Sprachverwendung ist nicht etwas spezifisch Deutsches oder Abendländisches1. Die Fantasie der Denksteuerung-durch-Sprachsteuerung hat es in vielen Teilen der Welt gegeben, auch in Indien. Hierüber kann ein Indologe (wie ich, zum Beispiel) besser als ein Germanist oder ‹Genderlinguist› berichten.

Bekanntlich gibt es einen Teil der indischen Bevölkerung (und zwar einen großen Teil), der im hierarchischen Denken des Kastensystems ganz unten in der sozialen Pyramide angesiedelt ist: die sogenannten Unberührbaren. Das deutsche Wort ist eine genaue Übersetzung des Sanskrit-Wortes aspṛśya, ‹nicht zu Berührender›. Im altertümlichen sozialen Denken in Südasien galten die Unberührbaren als dermaßen unrein, dass jeder Kontakt mit ihnen von den Mitgliedern der höheren Kasten als besonders riskant betrachtet wurde. Das ‹Unreine› wurde dabei nicht als eine rein hygienische Angelegenheit gesehen (wie manche moderne Apologeten behaupten), sondern auch als eine magische Gefahr: sogar wenn der Schatten eines Unberührbaren auf einen fiel, dann konnte einem ein schlimmer Unfall passieren, so glaubte man wenigstens in gewissen Teilen Indiens. (Es geht hier um eine äußert empfindliche und politisch explosive Sache. Eine detaillierte Besprechung ist hier nicht am richtigen Platz2. Kurz zusammengefasst: es handelt sich hier um Diskriminierung auf Basis der sozialen Herkunft.)

Das Kastensystem ist ein erschreckendes Beispiel von was heutzutage Identitätspolitik genannt wird. Jede der etwa 5000 indischen jāti-s oder Kasten ist eine ‹Identität›. Diese ist einerseits eine Solidaritätsgemeinschaft, andererseits eine soziale und politische Kampfeinheit. Fortschrittliche soziale und politische Denker in Indien haben seit vielen Jahrhunderten versucht, die verheerenden Wirkungen dieses Systems einzudämmen und zu neutralisieren.

Neben dem Wort aspṛśya gab und gibt es in den vielen Sprachen Indiens noch viele andere Wörter, von unterschiedlicher Grobheit, zur Bezeichnung der Menschen in dieser sozialen Kategorie. Mahatma Gandhi, berühmt als der ‹Vater des modernen Indien›, war ein besonders egalitär denkender Mensch und wollte auch den Status der Unberührbaren verbessern. Deshalb führte er ein neues Wort für sie ein: harijana, was so wie bedeutet wie «Mensch Gottes». Er redigierte auch eine Zeitschrift mit diesem Wort als Titel. Hiermit wollte er zum Ausdruck bringen, dass alle Menschen Kinder Gottes seien, und hervorheben, dass auch die Menschen dieser Kategorie als gleichberechtigte Mitbürger angesehen werden sollen.

Viele neue Wörter, und nichts ändert sich

Das war schön gedacht. Viel änderte dies am Status der «ehemaligen Unberührbaren» (wie sie fortan von progressiv sprechenden Menschen genannt wurden) aber nicht. Die Diskriminierung existierte weiter. Dann begann man das Wort harijana als einen verharmlosenden Euphemismus zu sehen. Gebildete, sich als fortschrittlich sehende Menschen benutzten das Wort nicht mehr und begannen zu sprechen von «SC/ST» («essi-esti»): ein bürokratisches Kürzel für «scheduled castes and scheduled tribes», denn inzwischen gab es auch ein Quotensystem, in dem für die «ehemaligen Unberührbaren» u.a. Studienplätze und berufliche Stellen im öffentlichen Dienst reserviert wurden; die Mitglieder jener scheduled castes and scheduled tribes durften die Quoten beanspruchen. (Mehrere führende Personen aus dieser Bevölkerungsschicht äußern sich heute kritisch zum Quotensystem, weil es zwar gut gemeint ist aber auch als politisches Bestechungsinstrument verwendet wird. Auch steht jeder Begünstigte im ernsten Verdacht, seinen Studienplatz oder seine berufliche Stelle nicht aufgrund seiner eigenen Verdienste und seiner Kompetenz bekommen zu haben, sondern bloß weil er ein Quotenmensch ist.)

Mittlerweile findet man auch das Kürzel SC/ST herablassend und spricht man lieber von dalitas (oft geschrieben ohne das zweite ‹a›, was die nordindische Aussprache dieses Sanskritwortes wiedergibt: dalits) oder ‹Gebrochenen›. Diese Bezeichnung scheint langlebiger zu sein.

Hat der gesellschaftliche Status dieser Menschen sich dadurch verbessert, dass sie nicht mehr aspṛśya, sondern harijana genannt wurden? Oder SC/ST? Oder dalita? Überhaupt nicht. Ihr Status verbessert sich, ja, aber nicht durch Sprachspielchen. Ihr Status wird verbessert durch konkrete soziale Handlungen (und zwar durch ihre eigenen Leistungen), durch Anerkennung der Fähigkeiten jener Menschen als wertvoller Mitglieder der Gesellschaft und durch eine dementsprechende Belohnung. Nicht durch ein neues Wort.

Wer Anderes behauptet, lügt einfach – denn auch das Wort ‹Dalita› kann genau so negativ verwendet werden (und wird es auch) wie das an sich vollkommen harmlose deutsche Wort ‹Ausländer›3. Whorfianische Wortmagie funktioniert einfach nicht. Oder, wie Dr. Ewa Trutkowski über das Gendern gesagt hat: «Was in den Köpfen ist, muss nicht unbedingt in der Sprache sein, und andersherum.»

Zusammenfassung

Die wichtigsten Punkte:

  1. Die Fantasie, dass Politiker durch Sprachsteuerung das Denken und das Verhalten grundsätzlich steuern können (mittels irgendeiner Form von ‹Neusprech›), ist alt, ist auch nicht spezifisch deutsch oder europäisch
  2. Auch wenn die Absichten hinter kosmetischen Sprachänderungen an sich gut gemeint sind (wie z.B. Mahatma Gandhis Einsatz für die indischen aspṛśyas), haben sie nichts gebracht, denn –
  3. Was in den Köpfen ist, muss nicht unbedingt in der Sprache sein, und andersherum

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  1. Die heute übliche idiomatische Verwendung des Ausdrucks ‹politisch korrekt› scheint ursprünglich aus der Sowjetunion zu stammen: «The term political correctness first appeared in Marxist-Leninist vocabulary following the Russian Revolution of 1917. At that time it was used to describe strict adherence to the policies and principles of the Communist Party of the Soviet Union, that is, the party line.» Siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Political_correctness#Early-to-mid_20th_century↩︎

  2. Man muss allerdings nie vergessen, dass Indien ein besonders großes Land ist, und dass es äußerst schwer ist, über die Unberührbarkeit zu verallgemeinern. Im Laufe der Zeit hat sich einiges geändert; viel hängt davon ab, genau in welchem Teil Indiens man sich befindet; in städtischen Umgebungen sind die Verhältnisse im allgemeinen weniger schlimm als in ländlichen; unter hoch Gebildeten ist die Diskriminierung in der Regel viel geringer als unter Ungebildeten. Ein Mann aus dieser Bevölkerungsschicht ist Präsident der Republik Indien geworden. Ein ‹Unberührbarer› muss auch nicht unbedingt wirtschaftlich arm sein. Aber im allgemeinen gilt noch immer, dass die Geburt als Unberührbarer einen erheblichen Nachteil bedeutet. Manche Kämpfer gegen die Unberührbarkeit vergleichen sie mit Rassismus und Apartheid. Ohne auf die Details solcher Vergleiche einzugehen, dürfen wir hier aber festhalten, dass es sich hier wenigstens um sehr Ähnliches handelt: um Diskriminierung auf Basis der sozialen Herkunft.↩︎

  3. Hier spreche ich jetzt selbst als Doppelausländer (mit zwei Staatsangehörigkeiten, und keine von beiden ist deutsch). Ich kenne niemanden mit mehr ‹internationaler Geschichte› als mich selbst. Wenn irgendwelche Leute nicht über ‹Ausländer›, sondern über ‹Menschen mit Migrationshintergrund› oder ‹Menschen mit internationaler Geschichte› zu sprechen beginnen, dann ändert sich durch diese irritierende sprachliche Prüderie nichts. ↩︎