Gendersprache


 

Was lehrt uns die Geschichte der deutschen Sprache?

Der Gendersprache-Aktivismus ist auffällig blind für die deutsche Sprachgeschichte: er beachtet sie gar nicht und erfindet ein neues Problem, wo es gar keines gibt.

Abschnitte auf dieser Seite:

Die indogermanische Sprachfamilie, mit ihren drei Geschlechtern

Das Deutsche ist eine klassische indogermanische (auch ‹indoeuropäisch› genannte) Sprache: klassisch in dem Sinne, dass Deutschsprachige noch immer aktiv die drei grammatischen Geschlechter männlich, weiblich und sächlich benutzen. Das ist interessant, verwirrend, nicht effizient, und kann Anlass zu verschiedenen Missverständnissen sein (wie wir u.a. in der sogenannten ‹Genderlinguistik› oder ‹feministischen Linguistik› sehen).

In manchen anderen Sprachen der indogermanischen Sprachfamilie gibt es die drei Geschlechter nicht mehr, oder die Zahl ist reduziert worden, oder das Geschlecht eines Nomens ist ‹natürlich› geworden: So ersetzt man im Englischen das Wort für ‹Großmutter› mit dem Pronomen für ‹sie› (weiblich), weil eine Großmutter natürlich eine Frau ist. Aber ein Engländer, der Deutsch lernt, schüttelt zuerst den Kopf, wenn er lernt, dass auch eine Tür ‹sie› ist, ein Fisch immer ‹er› ist und jede Abstraktion, die mit einem auf -heit oder -keit endenden Wort angedeutet wird, eine ‹sie› ist. Für den Engländer sind eine Tür, ein Fisch und jedes abstrakte Ding ‹es›.

Viele Sprachen in der Welt kennen kein so eigenartiges Genussystem, wie die indogermanische Familie sie kennt. Dieses indogermanische System hat interessante, eigenartige Züge. Prof. Dr. Olav Hackstein, der Historische und Indogermanische Sprachwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrt, schreibt hierüber in seinem Artikel «Grammatik im Fegefeuer» in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Im älteren Indoeuropäischen war das sogenannte Maskulinum ein gemeinsames Genus (Genus commune), welches belebte Wesen beider biologischer Geschlechter bezeichnete. Dieser Zustand ist nicht nur historisch. Er hat sich bis heute noch beim Fragepronomen erhalten, welches nur zwischen „wer“ (belebt) und was (unbelebt) unterscheidet. Gleichermaßen bezeichnete die Endung, die im Neuhochdeutschen „wer“ (engl. who aus *kwos) vorliegt, ursprünglich und beim generischen Maskulinum immer noch das gemeinsame Genus (biologisch maskulinum+femininum). Und ebenso meint das maskuline Pronomen einer in „Einer trage des andern Last“ (Gal. 6,2; Luther) den Menschen ohne Ansehen seines biologischen Geschlechts, ebenso auch jeder in „Jeder, der will, kann geimpft werden“.

Ja, es scheint den Genderlinguisten noch nicht aufgefallen zu sein, dass das geschlechtsneutrale Wort ‹wer› typisch ‹männlich› aussieht: es wird flektiert wer, wessen, wem, wen. Oder vielleicht wollten sie einfach nicht darüber nachdenken und haben sich deswegen nicht beklagt. (Man vergleiche auch jemand, jemandes, jemandem, jemanden.)

Die Funktionen der grammatischen Geschlechter

Was waren sonst die Funktionen jener grammatischen Geschlechter? Lesen wir weiter im bereits erwähnten Artikel von Hackstein.

Bei der Mehrzahl der neuhochdeutschen Wörter aber erfüllen die drei grammatischen Geschlechter eine ganz andere Funktion. Das sogenannte Maskulinum kennzeichnet zum Beispiel individuelle Wesenheiten wie der Teich. Das sogenannte Femininum wird für Kollektiva und Abstrakta wie die Flut, die Strömung, die Überschwemmung verwendet. Das sogenannte Neutrum kann unter anderem unbestimmte Massen bezeichnen, etwa das Wasser.

Diese drei Funktionen – Maskulinum für Individualisierung, Femininum für Kollektivum/Abstraktum, Neutrum für unbestimmte Masse – sind ererbt. Mit Sexus haben sie nichts zu tun. Vielmehr ziehen sie sich produktiv durch die gesamte deutsche Gegenwartsgrammatik. So sprechen wir maskulin-individuativ von (vereinzeltem) Pfusch, feminin-abstrakt von der (Unart der) Pfuscherei, neutral-unbestimmt ist das (generelle) Pfuschen. Oder: der (vereinzelte) Schwatz – die (Eigenschaft der) Schwätzerei – das (unbestimmte) Schwatzen.

Wer sich in diesen Sachen irrt und Genus und Sexus verwechselt, ist übrigens nicht allein, wie Philipp Hübl (Philosoph damals in Stuttgart, ab 2020 an der Universität der Künste in Berlin) 2018 schon schrieb:

Selbst der Philosoph und Philologe Friedrich Nietzsche hat Genus und Sexus verwechselt, als er meinte, unsere Vorfahren hätten ihre Vorstellung vom biologischen Geschlecht auf geschlechtslose Dinge wie den Baum (männlich) und die Blume (weiblich) übertragen. Tatsächlich ist das Femininum sprachgeschichtlich das Genus für Abstrakta wie «Einigkeit» und «Freiheit», während das Maskulinum für belebte und das Neutrum für unbelebte Wesen stand. Die heutige Einteilung hat sich erst später daraus entwickelt.

Die unhistorische / antihistorische Genderlinguistik

Der oben zitierte Artikel von Hackstein weist auch auf das Antihistorische der Genderlinguistik hin:

Wer also die Sprachgeschichte nicht mit ins Kalkül zieht, sitzt also schnell Missverständnissen auf. So wurde das Pronomen „man“/„jedermann“ von der Gender-Sprachkritik als „männlich“ gedeutet – und missverstanden. „Man/jedermann“ enthalten die ältere Bedeutung des Wortes Mann, dessen ursprüngliche und im Neuhochdeutschen und Englischen teilweise noch erhaltene Bedeutung „Mensch“ ist. Die Bedeutungsverengung des Substantivs „der Mann“ auf „männlicher Mensch“ geschah erst nachträglich.

In ideologischem Eifer machen die Vertreter der Genderlinguistik anscheinend gerne wilde Behauptungen, die geschichtlich (und auch sonst) nicht haltbar sind. So wurde eine weitere Behauptung der Genderlinguisten kritisch von Dr. Ewa Trutkowski und Prof. Dr. Helmut Weiß untersucht in ihrem Artikel «Seit 1000 Jahren können Frauen auch Sünder, Richter und Freunde sein» in Die Welt im März 2022:

Im Streit über das generische Maskulinum hat sich ein fataler populärer Irrtum festgesetzt, der von den Befürwortern sogenannter geschlechtergerechter Sprache immer wieder in Szene gesetzt wird. Dieser Irrtum geht davon aus, dass die generische, also geschlechtsunspezifische Bedeutung des Maskulinums entstanden sei, nachdem immer mehr Frauen in Männerdomänen bzw. vormals nur von Männern ausgeübten Berufen Eingang gefunden haben. Will heißen: mit Studenten, Lehrer, Ärzte waren früher nur Männer gemeint, und die generische Bedeutung hat sich erst mit der Zeit, durch die Präsenz von Frauen entwickelt.

Das klingt erst mal logisch. Als Sprachwissenschaftler muss es einen jedoch stutzig machen, denn schließlich fungieren auch Nachbarn, Freunde und Sünder als generische Maskulina. Dass Frauen nicht gesündigt hätten und niemandes Freunde oder Nachbarn waren, ist jedoch recht unwahrscheinlich. Und genau diese Unwahrscheinlichkeit war es, die uns dazu veranlasst hat, die Datenlage in den älteren Sprachstufen des Deutschen näher zu erkunden.

Die beiden stellen dabei fest, ebenso wie der schon zitierte Hackstein, dass das grammatisch maskuline Generikum überhaupt nicht ausschließlich zur Bezeichnung von Personen des männlichen Geschlechts verwendet wurde: ein Gast, ein Freund, ein Lügner konnte auch eine Frau sein. Nebenbei bemerken sie zum Wort «Gast»:

Das liegt übrigens nicht daran, dass es keine weibliche Form Gästin gegeben hätte. Das Grimmsche Wörterbuch vermerkt, dass diese Form, wenn auch selten, so doch bereits im Althochdeutschen belegt ist und im Mittelhochdeutschen sogar „ziemlich oft“ vorkommt. Später verschwand die Gästin, bevor sie durch den Duden künstlich wiederbelebt wurde.

Womit wieder mal gezeigt ist, dass der Duden ein unzuverlässiges, komisches, rückschrittliches Ding geworden ist.

Über die von Genderaktivisten besonders verhassten Wörter auf -er schreibt Hackstein:

Auch im neuhochdeutschen Plural sind Mann und Frau gleichberechtigt. Der Plural-Artikel „die“ wird für Maskulina, Feminina und Neutra gleichermaßen gebraucht und enthält keinen Hinweis auf das grammatische Genus. Er markiert lediglich den bestimmten Plural.

Im Fall von Täter- und Berufsbezeichnungen auf -er wie Lehr-er, Fisch-er waren in mittelhochdeutscher Zeit im Singular und Plural Maskulinum und Femininum zusammengefallen, ebenso die maskuline und feminine Form des Artikels. Die Neukennzeichnung des Femininums mit „-in“ entwickelte sich erst nachträglich.

Das bedeutet, dass das ererbte Genus commune (alias „generisches Maskulinum“) und der lautliche Zusammenfall der maskulinen und femininen Bildung im Mittelhochdeutschen bei Pluralen wie „die Erzieher“ die Genus-Markierung außer Kraft gesetzt hat.

(Meine Hervorhebung, weil die Mitteilung wichtig ist.) Mit anderen Worten: Die Befürworter der angeblich «gendergerechten Sprache» wollen ständig die Geschlechter trennen. Sie wollen das auch tun, wenn Geschlechtlichkeit völlig irrelevant ist. Auch wollen sie es tun auf eine Weise, die in alten Zeiten lexikalisch nicht einmal möglich war. Sie greifen abgeleitete Wörter mit Neukennzeichnungen auf, erkennen diese nicht als das, was sie sind (nämlich Spezifika, Wörter ohne generische Bedeutung), regen sich darüber auf, dass diese Wörter Spezifika sind, und tun dann, als ob hier ein großes Unrecht vorliegt – wofür irgendwelche bösen Männer (im ‹Patriarchat› oder so was) schuld seien.

Mit wieder anderen Worten: die Gendersprech-Aktivisten erkennen ihre eigenen Denkfehler nicht; dann kreieren sie ein neues, künstliches Problem; dann machen sie andere dafür verantwortlich; und schließlich bieten sie untaugliche Lösungen für das Nicht-Problem an. (Ein fantastisches Geschäftsmodell, das die Gesellschaft Millionen Euro kostet.)

Siehe auch den Artikel «Generisches Maskulinum eine historisch junge Konvention des Sprachgebrauchs? Weit verbreitete These sprachwissenschaftlich widerlegt» von der Gesellschaft für deutsche Sprache e. V.1.

Sehr ausführlich, auf mehr als 358 Seiten, ist das 2023 erschienene Werk Studien zum genderneutralen Maskulinum des Germanisten Prof. Dr. Eckhard Meineke, das sich mit historischen Tatsachen befasst und auch auf die ideologischen und politischen Aspekte der Gendersprech-Frage (mit denen auch wir uns später beschäftigen werden) eingeht.

So wurde also von mehreren Sprachhistorikern festgestellt, dass das grammatisch männliche Generikum immer schon geschlechtsneutral gewesen ist (dies ist eben die Bedeutung des Wortes ‹generisch›) und sich auf Frauen und Männer beziehen kann. Das Generikum hat immer alle Menschen ‹mitgemeint› (falls wir diesen modischen Ausdruck verwenden wollen). Genau wie das grammatisch männliche Wort ‹Mensch›.

Wer / was sollte der wahre ‹Feind› der Genderlinguistik sein?

Es klingt vielleicht kontra-intuitiv, aber der wahre ‹Feind› ist nicht das maskuline Generikum (wie Genderaktivisten behaupten), denn dieses ist ja generisch, d.h. geschlechtsneutral. Nein, der wahre Feind ist das historisch neuere, feminine Spezifikum, weswegen die falsche Vorstellung verbreitet werden konnte, dass die maskulinen Generika nicht generisch, sondern ebenfalls (wie die Feminina) geschlechtlich spezifisch sind.

Wenn jetzt irgendeine eingebildete, oberflächlich lifestyle-linke Person uns kritisiert und sagt, dass sie sich ‹nicht wahrgenommen›, ‹unsichtbar› oder ‹nicht respektiert› fühlt, weil wir nicht gendern, dann können wir höflich sagen: «Mein Respekt für Sie hängt nicht von Ihrem Geschlecht ab, und ich wollte nicht mittels einer überflüssigen zusätzlichen Endung Ihr Geschlecht hervorheben.» Diese unsere Stellungnahme muss respektiert werden.

Und falls jene Person dann penetrant wird und sagt ‹ich empfinde das nicht so›, dann dürfen wir ruhig sagen: «Das ist Ihr persönliches Problem, Ihre ahistorische (und ungebildete) Subjektivität und Respektlosigkeit hinsichtlich meiner korrekten Sprachverwendung, die Sie vielleicht mit einer ungebildeten Minderheit teilen. Ich spreche die korrekte deutsche Standardsprache, an der nichts auszusetzen ist, und ich bin nicht für Ihre verfehlten Empfindungen verantwortlich.» Niemand hat das Recht, auf Basis seiner ahistorischen, fehlerhaften, subjektiven Meinungen uns wegen unserer korrekten Sprache zu verurteilen und uns zu Änderungen zu zwingen.

Es wäre unmöglich, in einer Welt zu leben, wo jedes ‹Gefühl› von Empörung jedes Menschen immer im Verhalten aller anderen in Betracht gezogen werden muss. Denn: Jeder kann immer behaupten, dass er etwas ‹fühlt›! Das ist rein subjektiv. Das ist eher sein persönliches Problem, womit er allein klarkommen soll, und nicht ein Problem der Öffentlichkeit. Dies betrifft natürlich Männer wie Frauen.

Zusammenfassung

Die wichtigsten Punkte:

  1. Die indogermanische (oder indoeuropäische) Sprachfamilie kannte ursprünglich drei grammatische Geschlechter, und viele modernen Sprachen (z.B. Deutsch) haben sie noch immer. In anderen modernen Sprachen ist diese Zahl reduziert worden: in mehreren sind männlich und sächlich miteinander zum neuen männlichen Geschlecht verschmolzen, aber das weibliche ist als etwas Besonderes erhalten geblieben; in wieder anderen sind männlich und weiblich großenteils miteinander verschmolzen. In manchen Sprachen sind die Geschlechter völlig verschwunden
  2. Es kann einen Zusammenhang zwischen dem grammatischen Geschlecht eines Wortes und dem biologischen Geschlecht des durch das Wort  bezeichneten Lebewesens geben, aber dies muss nicht so sein, denn die grammatischen Geschlechter haben auch andere Funktionen
  3. Befürworter sogenannter geschlechtergerechter Sprache sprechen wiederholt die Unwahrheit aus, dass die generische, also geschlechtsunspezifische Bedeutung des Maskulinums entstanden sei, nachdem immer mehr Frauen in Männerdomänen bzw. vormals nur von Männern ausgeübten Berufen tätig wurden. Dies ist historisch falsch
  4. Die sogenannte Genderlinguistik macht einen üblen Fehler, wenn sie sagt, dass das ‹generische Maskulinum› ein Feind ist, den es zu bekämpfen gilt. Im Gegenteil: es ist das spezifische Femininum, wodurch die falsche Vorstellung verbreitet werden konnte, dass die maskulinen Generika nicht generisch, sondern ebenfalls geschlechtlich spezifisch sind

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  1. https://gfds.de/generisches-maskulinum-eine-historisch-junge-konvention-des-sprachgebrauchs/.↩︎