Achtung: Jedes Wintersemester passiert es wieder, dass Studierende der Nordamerikanistik sich für diesen Kurs anmelden, in der irrigen Annahme, es handle sich hier um etwas aus dem Land Kanada (geschrieben mit Einzel-n. Kanada ist keine Sprache; das Kannada schon).
Inhalt: (Man beachte, dass die blauen Textstellen Hyperlink-Verknüpfungen sind.)
Das Kannada (in älterer Literatur auch ,Kanaresisch‘ genannt) gehört zur dravidischen Sprachfamilie und ist die einzige offizielle Verwaltungssprache des südindischen Bundeslandes Karnataka, das seit dem Jahre 2007 mit dem Freistaat Bayern ein Partnerschaftsabkommen für wissenschaftlichen, technischen, kulturellen und kommerziellen Austausch hat.
Die ältesten literarischen Reste des Kannada stammen aus dem fünften nachchristlichen Jahrhundert, und wegen seiner grossen kulturgeschichtlichen Bedeutung hat im Jahre 2009 die indische Regierung dem Kannada den Status einer klassischen Sprache zuerkannt. Ausserdem ist das Kannada in Indien als eine der wichtigsten, wenn nicht de facto als die wichtigste moderne Literatursprache des Landes anerkannt. Es wird von etwa 65 Millionen Menschen gesprochen, von ungefähr 11 Millionen als Zweitsprache.
Das Kannada ist wahrscheinlich auch die am längsten in Europa bekannte indische Sprache: 1904 identifizierte der deutsche Indologe E. Hultzsch einige Wörter in einem in Ägypten gefundenen antiken griechischen Bühnenspieltext als Kannada.
Seit dem zwölften Jahrhundert hat die Schriftsprache sich kaum geändert. Dies bedeutet, dass man durch Kenntnisse der heutigen, modernen Schriftsprache direkten Zugang zu Primärquellen von mehreren Jahrhunderten indischer Kulturgeschichte erlangt. Keine andere moderne indische Sprache bietet dies.
Die dravidischen Sprachen sind die sechstgrösste Sprachfamilie der Welt. Alle Sprachen dieser Familie werden im indischen Subkontinent gesprochen, einige davon in der Neuzeit auch von Immigranten in anderen Ländern.
Vier der 27 bekannten dravidischen Sprachen sind hoch entwickelte Literatursprachen mit vielen Millionen von Sprechern (die meisten dravidischen Sprachen sind Stammessprachen, die von kleinen Gemeinschaften gesprochen werden).
Linguistisch formen die Sprachen Indiens den südasiatischen Sprachbund1, wobei die Entstehung der Besonderheiten der so genannten indogermanischen Sprachen Nordindiens nur durch Grundkenntnisse des Dravidischen zu verstehen sind. Wo die nordindischen indogermanischen Sprachen strukturell und phonetisch von den übrigen indogermanischen Sprachen abweichen, liegt meistens dravidischer Einfluss vor.
Die dravidischen Sprachen sind so genannte agglutinierende Sprachen2, d.h. dass fast alle Flexionsformen mithilfe von Suffixen verwirklicht werden (andere bekannte Sprachen dieses Typus sind z.B. Ungarisch, Finnisch, Türkisch, Japanisch). Hierbei fällt die grosse Regelmässigkeit auf, z.B.: Jedes Wort, das auf -annu endet, steht im Akkusativ und ist ein grammatisches Objekt, wobei Worttypus, grammatisches Geschlecht, Numerus unwichtig sind, denn die Endung ist immer die gleiche. Also gibt es im Kannada nicht die verwirrende Formvielfalt, die man in vielen indogermanischen Sprachen kennt.
Die Morphologie ist also sehr schnell gelernt, und der Student kann sich konzentrieren auf andere Aspekte der Sprache, wie Satzbau, Semantik, Idiomatik usw.
Die interessantesten Herausforderungen beim Erlernen des Kannada werden vom Satzbau und von der Semantik geboten. Ähnlich wie das Türkische und Japanische ist das Kannada eine sehr stark left-branching language3, d.h. dass Attribute immer vor dem stehen, worauf sie sich beziehen. Es kennt keine Relativpronomina, und Relativsätze werden gebildet mithilfe einer besonderen Verbform.
Das Kannada hat eine eigene Schrift, die sich spätestens seit dem 5. Jh. n. Chr. entwickelt hat. Vom Typus her ist sie eine Abugida-Schrift, wie alle einheimisch entstandenen indischen Schriften4, und gibt die Aussprache ziemlich genau wieder.
Wie schon erwähnt hat der Freistaat Bayern ein Partnerschaftsabkommen für wissenschaftlichen, technischen, kulturellen und kommerziellen Austausch mit Karnataka. Dies bedeutet, dass die intensivsten und wichtigsten Beziehungen zwischen dem Freistaat und Indien solche mit Karnataka sein werden.
Karnataka ist aber nicht nur aus zeitgenössischer wirtschaftlicher Sicht (vor allem mit der Hauptstadt Bangalore als Zentrum der indischen Informationstechnologie) einer der wichtigsten Teile Indiens. Es hat eine Rolle grosser Bedeutung in der gesamtindischen Kulturgeschichte gespielt (Religion, Philosophie, Literatur, Musik) und spielt sie auch heute noch immer. Ökologisch ist Karnataka ebenfalls von grosser Bedeutung, weil der Grossteil der Westghats5 (einer Gebirgsregion, die von der UNESCO zu den weltweit wichtigsten Biodiversitäts-Hotspots6 gerechnet wird) in Karnataka liegt.
Im Kannada-Grundkurs an der LMU wird die moderne Kannada-Schriftsprache unterrichtet, die sich seit etwa neun Jahrhunderten nur sehr wenig geändert hat. Zwar wird gelegentlich auf in der Schriftsprache vorkommende Regionalismen hingewiesen, und grundsätzliche Konversationsmuster (vor allem solche von kulturwissenschaftlichem Interesse) werden behandelt; aber im Vordergrund im Kurs stehen eindeutig Lesen und Schreiben der Standardsprache, nicht Sprechen und Dialektunterschiede. Dabei werden vor allem solche Besonderheiten der Sprache hervorgehoben, die zu Einsichten in fundamentale kulturelle und soziale Unterschiede zwischen indischem und europäischem Denken führen.
Dieser Grundkurs dauert zwei Semester (Kannada I im Wintersemester, Kannada II im Sommersemester), mit 4 (2 x 2) Semesterwochenstunden, und wird mit einem 2stündigen Tutorium unterstützt. Es wird mit Nachdruck empfohlen, dass man regelmässig auch das Tutorium besuche, denn beim Erlernen einer für Europäer in manchen Hinsichten so ungewöhnlichen Sprache darf man den Wert des Tutoriums, wo der Lehrstoff wiederholt und geübt wird, nicht unterschätzen.
Ab dem Wintersemester 2021/22 ist die Unterrichtssprache Englisch – aber während des Unterrichts dürfen die Studenten selbstverständlich eventuelle Fragen auf Deutsch stellen.
Prof. Dr. Robert Zydenbos vom Institut für Indologie und Tibetologie der LMU hat siebzehn Jahre in Karnataka gelebt, beherrscht die Sprache praktisch wie ein Muttersprachler und ist in Karnataka viele Male als öffentlicher Redner aufgetreten, u.a. im Rundfunk und Fernsehen.
Das Lehrbuch für den Kurs ist von ihm verfasst worden und ist hier erhältlich (kostenlos als PDF-Datei, aber auch bestellbar als echtes Buch auf Papier): Crossasia Books Heidelberg7 – Eine Buchbesprechung ist erschienen in der kannadasprachigen Tageszeitung Vijaya Karnataka vom 28.1.2021.
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Zum Homepage des Instituts für Indologie und Tibetologie
https://de.wikipedia.org/wiki/S%FCdasiatischer_Sprachbund ↩
Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Agglutinierender_Sprachbau, https://en.wikipedia.org/wiki/Agglutinative_language ↩
https://en.wikipedia.org/wiki/Branching_(linguistics) ↩
https://de.wikipedia.org/wiki/Abugida ↩
https://de.wikipedia.org/wiki/Westghats ↩
https://de.wikipedia.org/wiki/Biodiversitäts-Hotspot ↩
https://crossasia-books.ub.uni-heidelberg.de/xasia/catalog/book/736 ↩